Vierhundertfünfundachtzig Tage ist es her, als wir im frostigen Winter Europa den Rücken gekehrt haben. In der Türkei war es noch klirrekalt und wir eingemummelt, als wollten wir bis nach Sibirien fahren. Einige Wochen später kehrte der ersehnte Frühling ein, die dicken Klamotten landeten tief in der Tasche und der Radcomputer schmolz bereits Anfang Mai bei 59°C Anzeige fast dahin. Was haben wir geschwitzt und uns hin und wieder nach kühleren Temperaturen gesehnt. Viele Monate war es nicht nur brütend heiß, sondern auch noch tropisch feucht. Australien hat mit seinen Fliegen noch einen oben draufgesetzt und unsere Vorfreude auf die Rückkehr nach Europa nach und nach in die Höhe getrieben. Nochmals sind wir in Bangkok und machen einen zweitägigen Zwischenstopp. Ein letztes Mal futtern wir uns durch die unzähligen Garküchen, lassen uns die Knochen durchkneten und hüpfen bei 35°C in den Pool.Und dann heißt´s …auf nach Europa, Kiew wir kommen.

Am Flughafen wartet bereits Marina und empfängt uns mit einem freundlichen „herzlich willkommen in der Ukraine“. Unser Pickup steht schon in den Startlöchern, die Fahrräder schnell noch draufgehievt und ab geht die Fahrt durch die Rushhour der Dreimillionen-Stadt. Aus dem Auto beäugen wir die in die Jahre gekommenen Plattenbausiedlungen und von weitem funkeln die goldenen Kuppeln prächtiger Kirchen im Licht der Abendsonne. Es ist unglaublich grün und durch das heruntergekurbelte Fenster duftet es nach frischer Sommerluft. Wir überqueren den großen Fluss Dnjepr und fahren am Promenadenufer entlang bis zum anderen Ende der Stadt. Unser Ziel ist das Häuschen von Oksana, Sie ist Marinas dickste Freundin und für die kommenden Tage unsere Gastgeberin. Gleich nach der Ankunft gibt’s ein Tischlein-deck-dich. Fisch, Borschtsch, Käse, Salami, richtiges Schwarzbrot und der obligatorische Wodka darf natürlich nicht fehlen. Nach zwei Monaten Pasta im Outback ein Traum von Abendbrot.

Drei Tage haben wir Zeit, um uns die Stadt mit ihren großen Plätzen, zahlreichen Gassen und schönen Kirchen anzusehen. Der Majdan Nesaleschnosti „Platz der Unabhängigkeit“, ist von großen Stalinbauten umgeben und bildet das Zentrum. Hier fand vor fünf Jahren die Revolution statt, der rund einhundert Menschen zum Opfer gefallen sind. Heute erinnern zahlreiche Mahntafeln und kleine Gedenkstätten an diese Tage und lassen nur erahnen, was sich hier abgespielt haben muss. Wir laufen durch die Parks oberhalb der Stadt, vorbei an Kirchen mit ihren schillernden Zwiebeltürmchen. Es gibt zahlreiche Galeriecafés, Straßenkünstler und eine Menge Souvenirverkäufer, die ihre Ware an den Mann bringen wollen. Unterhalb am großen Fluss gelegen lädt die Uferpromenade zum Flanieren ein. Ein bunter Mix aus alt und neu der uns gefällt.

Nach gefühlt 15 Km Tageswanderung machen zurück zum Dorf, welches übrigens auch Heimat vom geflohenen Ex-Präsidenten Janukowytsch war. Dessen Anwesen ist heute ein öffentlicher Park. Er gleicht einem kleinen Freilichtmuseum und zieht die Menschen aus dem ganzen Land an. Mit einem Lkw voller Gold hat er sich damals aus dem Staub gemacht und lebt seitdem im russischen Exil. Seine Hinterlassenschaft ist ein am Dnjepr gelegenes und vom Volk bezahltes Prachtgrundstück. Es ist einige Hektar groß, hat einen Golfplatz, Teiche mit Springbrunnen, Wasserfälle, Pavillons, Gästehäuser… und seine im finnischen Stil gebaute Protzvilla. Das Ganze umgeben von Wald- und Weideflächen soweit das Auge reicht. Für uns unvorstellbar, in welchem Größenwahn dieser Mensch gelebt haben muss.

Nach drei Tagen nehmen wir Abschied von Marina und Oksana, und bevor wir unsere Räder Richtung Zielgerade steuern, machen wir noch einen kleinen Schlenker nach Odessa. Aus Kiew heraus noch auf großen, dafür guten Straßen, leider auch mit reichlich Verkehr. Nach einem halben Tag liegt die große Stadt hinter und die Kornkammer der ehemaligen Sowjetrepublik vor uns. Es gibt unglaublich viele Weizen-, Sonnenblumen- und Maisfelder. Verschiedenste Wildkräuter an den Straßenrändern stehen in voller Blüte und leuchten in satten Gelb-, Lila- und Rottönen. Wir durchkreuzen kleine Dörfer oder größere Ortschaften, die uns an unsere Kindheit vor der Wende erinnern. Mancherorts scheint die Zeit stehen geblieben zu sein und die Dörfer wirken wie ausgestorben. Oft sehen wir brachliegende Kolchosen, leerstehende Häuser oder alte Fabriken, die dem Verfall trotzen. Alte Fahrzeuge wie der Lada, Moskwitsch oder Wolga, die vermutlich schon 30 Jahre oder mehr auf dem Buckel haben, sind auf den Holperstraßen keine Seltenheit.

Je weiter wir in den Süden fahren, desto schlechter werden diese. Wie schon in Usbekistan sind auch hier die Löcher zum Teil kratertief, und die Autos als auch wir fahren im Zickzackkurs um sie herum. Die Löhne der Menschen sind gering, aber es scheint ihnen besser zu gehen, als wir es in Georgien oder zum Teil auch in den STAN-Ländern erlebt haben. In den meisten Ortschaften gibt es ein Magazin (Einkaufsladen), deren Regale reichhaltig gefüllt sind. Oft machen wir hier Pause, trinken eisgekühlten Kwas (unser Lieblings-Brotgetränk) und decken uns mit Keksen oder lecker Eiscreme ein. Kekse als auch Bonbons gibt es tonnenweise in den verschiedensten Sorten zu kaufen, abgerechnet wird grammweise. Das Muddchen steht mit Kittelschürze hinterm Ladentresen und der Einkaufspreis wird noch mit dem Rechenschieber zusammenaddiert. Die meisten Menschen leben vom Eigenanbau, was sich dann am Straßenrand oder auf den Märkten der Stadt widerspiegelt. Obst und Gemüse in Hülle und Fülle zu unschlagbar günstigen Preisen. Was haben wir in Australien von frischen Erdbeeren und Kirschen geträumt und nun liegen diese bergeweise vor unserer Nase, ein Gedicht.

Plätze für unser Zelt zu finden, ist hier überhaupt kein Problem. Mal ist es ein See, in dem wir uns gleichzeitig waschen können, oder einfach irgendwo zwischen den Feldern. Wir haben viel Zeit zum Suchen, denn bis spät in die Abendstunden ist es hell. In Asien und Australien war es bereits um 18 Uhr stockfinster und nun sitzen wir um diese Zeit noch auf dem Sattel. Als Exoten (so sieht man uns hier) radeln wir weiter durchs Land der Kirchen (in jedem Dorf oft mehr als eine), bis wir die Hafenstadt Odessa erreichen. Ein kleiner Campingplatz am Meer gelegen ist unser Domizil. Mitten in der Stadt gelegen besuchen wir den Starokinny und einen Trödelmarkt in einem Altbauviertel.Hier wird so ziemlich alles verscherbelt.Neben Obst, Gemüse, Wein, Kräutern und Gewürzen aus dem Orient auch allerhand Alltagsgegenstände und Zeugs, was vermutlich keiner braucht. Sonst machen wir hier nicht viel, wälzen uns lieber ein letztes Mal im Sand, ruhen uns aus und genießen die frische Meeresbrise. Wir haben noch knapp sechs Wochen Zeit und es liegen rund 2400 Km vor uns, also ein recht gutes Zeitfenster.

Von Odessa aus fahren wir zur nächsten Grenze, verlassen für ein paar Tage die Ukraine und wollen eine kleine Route über Moldawien nehmen. Wir passieren problemlos einen Übergang im Süden des Landes und fahren in die Stadt Tiraspol. Unser Gastgeber Dimitri verlangt unsere Pässe, um unsere Personalien aufzunehmen und weist uns darauf hin, dass wir nur ein Transitvisum haben und wir „das Republikchen“ in einigen Stunden verlassen müssen. Ähhh wie bitte? Er meint wir seien nicht in Moldawien, sondern in Tiraspol, der Hauptstadt von Transnistrien, einer von Moldawien abgespaltenen Region. Wir sind völlig baff, waren wir doch der fest der Meinung,Transnistrien befindet sich weiter nördlich und liegt nicht auf unserer geplanten Route. Wir müssen uns also schnellstmöglich bei der Migrationspolizei melden, um unseren Aufenthalt zu verlängern, sonst gibt’s Ärger. So gehen wir im Stechschritt zu dieser Behörde (24h/7 geöffnet, Schwein gehabt) und reichen unsere Pässe durch die Luke des Pförtnerhäuschens. Keine Viertelstunde später und ohne ein Augenzwinkern bekommen wir die Pässe zurück. Fazit: zehn Tage Aufenthaltsgenehmigung und das Ganze für lau :).

So übernachten wir doch bei Dimitri, der uns außerdem gute Tipps gibt, wie wir auf super Asphalt mit wenig Verkehr und schöner Landschaft zum nächsten Grenzübergang gelangen. Spontan entscheiden wir, von unserer ursprünglichen Strecke abzuweichen und stattdessen die rund 200 Km durch russisch geprägte Transnistrien zu radeln.Das erspart einiges an Kilometern und höchstwahrscheinlich auch grottenschlechte Straßen in Moldawien. Zwei Tage lang rollen wir am Dnjestr-Fluss entlang. Es geht ständig auf und ab, vorbei an zahlreichen Weinbergen und duftenden Lavendelfeldern. An einem Abend wollen wir unseren Wasservorrat für das Nachtlager aufstocken und selbstverständlich auch nen kühles Feierabendbierchen trinken. Wir kehren in einem kleinen Dorfmagazin ein, kaufen zwei Flaschen Hopfenmalz und nehmen Platz auf einer Bank vor dem Geschäft. Vor dem Laden ist man in Vorbereitung einer Geburtstagssause und man fragt uns, ob wir Hunger haben. Wir antworten natürlich mit einem ja. Wir zotteln keine zwei Schlückchen aus unserer frisch geöffneten Flasche und bekommen einen rotgedeckten runden Tisch vor die Nase gestellt. Wir trauen unseren Augen nicht. Man serviert uns 1,5 l abgefüllten Rotwein, kleine warme Krautröllchen, Bouletten, Kartoffeln, Salat, hausgemachte Wurst und frischen Käse. Und weil das noch nicht reicht, gibt es zum Nachtisch noch ´ne eiskalte Torte mit Schlag obendrauf, yummi. Wir sind völlig aus dem Häuschen über diese unbeschreibliche Gastfreundschaft. In solchen Momenten stellen wir uns oft die Frage, ist so etwas bei uns auch möglich, wahrscheinlich eher nicht.

Tags darauf verlassen wir die Region schon wieder und passieren die Grenze zu Moldawien. Auch hier fahren wir nur ein kleines Teilstück (zu unserer Überraschung und dank der Amerikaner) auf perfektem Asphalt. Im Norden des Landes gibt es sehr viele Himbeer- und Weinplantagen und der Handel mit den saftig süßen Dingern scheint zu blühen. An den Straßenrändern werden die roten Beeren palettenweise verschachert und dennoch rauschen wir daran vorbei, denn außerhalb der Ortschaften kann man sie ungehindert für umsonst pflücken. Ansonsten unterscheidet sich der Teil des Landes nicht all zu groß von Transnistrien, außer dass die Anstiege immer knackiger werden. Berg hoch, Berg runter geht es für uns wieder zurück in die Ukraine. Zwei Tage lang fahren wir bei peitschendem Regen durch metertiefe Pfützen bis die Finger aufgeweicht und unsere Schlüppis durch sind. Im kräftigen Wolkenbruch erreichen wir die historische Ortschaft Kamjanez-Podilskyj. Die in einem Nationalpark liegende Stadt ist eine der ältesten des Landes und ein kleines Juwel, wie wir finden. Umhüllt von dichten Wäldern teilt der kleine Fluss Smotrytsch das Örtchen mit bis zu 60m hohen Kalksteinformationen. Die Altstadt mit ihrer Festung erinnert uns an alte tschechische Märchenfilme. Egal in welchem Teil der Stadt man steht, es gibt immer eine fantastische Sicht auf Kathedralen, Kirchen oder das kleine armenische Viertel im Talkessel. Faulenzen, spazieren gehen oder was auch immer, es macht Spaß hier zu sein.

Nach ein paar Tagen des Nix-Tuns ziehen wir weiter und auf unserem Weg begegnen wir immer wieder aufgeschlossenen, humorvollen und gastfreundlichen Menschen. Es sind kurze aber nette Begegnungen, meist während unserer Pausen. Oft fragt man uns, woher wir kommen, wohin die Reise geht, man wünscht viel Glück oder lädt uns auf einen kleinen Aperitif ein. Auf der Suche nach einen Schlafplatz lernen wir Victor kennen, einen Angler und Grundstücksbesitzer mit großer Wiese und einem eigenen See. Als wir dort aufkreuzen, traut man seinen Augen kaum. Mitte aus dem Nix tauchen plötzlich zwei vollbepackte Radfahrer auf. Wir fragen, ob wir auf der Wiese campieren können und auf die Gegenfrage „Terrorist Tourist“ antworten wir natürlich mit „Tourist“. Wir bekommen den Platz und man lässt uns für eine kurze Zeit allein. Wenig später kommt Victor mit Kartoffeln und zwei großen fangfrischen Karpfen wieder. Er nimmt die Fische auseinander, währenddessen wir das Feuerholz schlagen und wenig später landet alles auf dem Grill. Ein spontan geniales Abendessen und eine ausgesprochene Gastfreundlichkeit die Victor an den Tag legt.

Nun stehen wir kurz vor unserem Ziel, der Grenze zu Polen und somit dem vorletzten Land auf unserer Reise. Doch bevor wir die Ukraine verlassen, steht noch eine kleine Perle auf dem Plan und wir machen einen Abstecher nach Lviv (deutsch Lemberg). Die charmante Altstadt ist wohlverdient UNESCO Weltkulturerbe und sie strahlt mit ihren architektonischen Meisterwerken. Altbauten aus Zeiten der Renaissance, des Barock, des Jugendstils oder Art Déco, um nur einige zu nennen, bilden saniert oder unsaniert den Stadtkern. Mittendrin gibt es schöne Parks, Cafés und Kneipen, Straßenkünstler und reichlich Touristen,die sich in den Gassen tummeln. Egal wohin die Augen schauen, Sie entdecken allerhand und man könnte Tage oder Wochen hier verbringen. Mit rund 730000 Einwohnern ist die Stadt keinesfalls klein, aber Sie strahlt dennoch eine gewisse Gelassenheit aus. Ein Schmuckstück wie man es nur selten sieht und was wir jedem als Städtetrip wärmstens empfehlen können.

Nach einem gepflegten Sightseeing verlassen wir Lviv und radeln nun unsere letzten Kilometer durch ein Land, welches am Rande Europas steht und für uns doch irgendwie dazu gehört. Die Menschen, die farbenfrohen Landschaften und einige Städte haben uns sehr beeindruckt und sind definitiv eine weitere Reise wert.